Mythen und Sagen aus Nordfriesland: Von versunkenen Dörfern und Geistern im Watt
Die Mythen und Sagen Nordfrieslands sind ein Fenster in die Vergangenheit – und manchmal, wenn der Wind über das Watt streicht und die Flut die Sandbänke überspült, scheint diese Vergangenheit zum Greifen nah.

Die nordfriesische Küste liegt ruhig da, während die Flut langsam das Wattenmeer füllt. Bei Ebbe jedoch offenbart sich eine geheimnisvolle Landschaft, die mehr verbirgt als nur Muscheln und Schlick. Hier, wo Land und Meer seit Jahrhunderten in einem ewigen Kampf stehen, haben sich Mythen und Sagen entwickelt, die bis heute das kulturelle Erbe der Region prägen.
Rungholt – Das versunkene Atlantis der Nordsee
Die bekannteste Sage der nordfriesischen Küste rankt sich um Rungholt, oft auch als "Atlantis des Nordens" bezeichnet. Was lange Zeit als bloße Legende galt, wurde 1938 von der Geschichtswissenschaft als historische Tatsache anerkannt: Rungholt existierte wirklich als florierender Handelsort der Edomsharde auf der ehemaligen Insel Strand.
Der Untergang der Stadt im Jahr 1362 durch die sogenannte "grote Mandränke" (große Menschenertränkung) hat zahlreiche Legenden hervorgebracht. Der Sage nach war Rungholt zwar reich, aber seine Bewohner waren gotteslästerlich. In einer vielerzählten Version riefen Bürger einen Pfarrer zu einem vermeintlich Kranken, der das Abendmahl empfangen sollte. Stattdessen fand der Geistliche ein betrunkenes Schwein vor. Als er sich weigerte, mit den Rungholtern zu trinken und dabei den Abendmahlskelch zu benutzen, wurde er verprügelt. Nach seiner Flucht bat er Gott um Vergeltung – noch in derselben Nacht soll eine gewaltige Sturmflut die Stadt verschlungen haben.
Die historische Wahrheit liegt vermutlich näher an vernachlässigten Deichen, einem abgesenkten Landniveau und dem steigenden Meeresspiegel. Heute kannst du bei einer Wattwanderung den "Rungholtsand" erkunden, eine Wattfläche, unter der möglicherweise Überreste des legendären Ortes liegen. Die Legende besagt übrigens, dass alle sieben Jahre in der Johannisnacht die Glocken Rungholts für "Sonntagskinder" zu hören sind.
Unterwegs auf den Spuren der Vergangenheit
Wenn du die Sagenwelt Nordfrieslands hautnah erleben möchtest, bieten sich geführte Wattwanderungen an. Das Wattenmeer, seit 2009 UNESCO-Weltnaturerbe, ist nicht nur ökologisch wertvoll, sondern auch historisch bedeutsam. Bei Niedrigwasser kommen immer wieder Zeugnisse vergangener Zeiten zum Vorschein – von alten Deichstrukturen bis hin zu Gebrauchsgegenständen aus Rungholt und anderen untergegangenen Siedlungen.
Im Nationalpark-Haus auf Pellworm oder im Rungholt-Museum in Husum erfährst du mehr über die archäologischen Funde und die Geschichte der versunkenen Stadt. Dort werden unter anderem die Reste zweier Schleusen dokumentiert, die 1880 entdeckt und 1922 als Bauwerke aus der Zeit Rungholts anerkannt wurden.
Ekke Nekkepenn – Das Rumpelstilzchen der Nordsee
Auf dem Meeresgrund treibt laut nordfriesischer Sage ein besonders tückischer Geselle sein Unwesen: Ekke Nekkepenn, das nordfriesische Pendant zum Rumpelstilzchen. Dieser garstiger Meermann soll einer Sylter Kapitänsfrau geholfen haben, wurde aber später von ihrer Tochter überlistet – seitdem hegt er einen Groll gegen die Insulaner.
Bekannt wurde sein Reim, der an das klassische Rumpelstilzchen erinnert:
"Heute soll ich brauen; Morgen soll ich backen; Übermorgen will ich Hochzeit machen; Ich heiße Ekke Nekkepenn, Meine Braut ist Inge von Rantum, Und das weiß Niemand als ich allein."
Bis heute macht man Ekke Nekkepenn für Schiffsunglücke und Sturmfluten verantwortlich. Die Figur fand auch Eingang in die Literatur, unter anderem in Theodor Storms Novelle "Die Regentrude", wo er als zündelndes Feuermännlein erscheint.
Die Gonger – Untote der nordfriesischen Inseln
Auf Sylt und Amrum erzählt man sich von einer besonderen Art von Wiedergängern, den sogenannten "Gongern". Diese Geister sollen vor allem nachts aktiv sein und haben unterschiedliche Ursprünge: Es kann sich um Mordopfer handeln, um Menschen, die zu Lebzeiten Grundsteine versetzt haben, um Gotteslästerer oder Selbstmörder.
Eine besondere Kategorie bilden die ertrunkenen Seeleute. Diese erscheinen ihren Nachfahren, allerdings nicht den direkten Verwandten, sondern überspringen zwei bis drei Generationen. In der Abenddämmerung oder nachts streifen sie um das Haus des Nachkommen, betreten mit tropfnasser Kleidung die Räume und löschen das Licht. Der Gonger kehrt so lange wieder, bis die Erinnerung an ihn wachgerufen und sein Tod anerkannt wird.
Der volkstümliche Aberglaube warnt: Einem Gonger darf man nicht die Hand reichen – sie würde verbrennen, schwarz werden und abfallen. Diese schaurige Legende hat auch Eingang in die moderne Kultur gefunden, unter anderem durch Hugo Wolfgang Philipps Theaterstück "Der Gonger kommt" von 1930 und die Fernsehproduktionen "Gonger – Das Böse vergisst nie" (2009) und "Gonger 2 – Das Böse kehrt zurück" (2010).
Literarische Spuren der nordfriesischen Sagen
Die Sagen und Mythen Nordfrieslands haben zahlreiche Schriftsteller inspiriert. Am bekanntesten ist wohl Detlev von Liliencrons Ballade "Trutz, Blanke Hans" aus dem Jahr 1883 mit der berühmten Zeile: "Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren."
Auch Theodor Storm, selbst Nordfriese, griff in seinen Werken auf die regionalen Sagen zurück. In "Eine Halligfahrt" (1872) verarbeitete er den Rungholt-Mythos, während die Figur des Ekke Nekkepenn in "Die Regentrude" Eingang fand.
Selbst im 21. Jahrhundert faszinieren die nordfriesischen Sagen noch: Der Episodenfilm "Der Untergang Rungholts" (2001) und der historische Kriminalroman "Rungholts Ehre" (2005) von Derek Meister sind nur zwei Beispiele für moderne Adaptionen.
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